Nichts zu verbergen? Ein moderner Mythos und 12 Argumente dagegen

1. Nichts zu verbergen?Nichts zu verbergen

Schon lange wollte ich etwas dazu schreiben, weshalb die Behauptung, nichts zu verbergen zu haben, gefährlicher Unsinn ist. Doch lange wurde es mir ausgeredet. Denn mit dummen Aussagen ist es wie mit Lügen auf Social Media: Um sie zu widerlegen, muss man sie reproduzieren und verleiht ihnen damit noch mehr Reichweite und Macht. Im Jahr 2014 war es endlich so weit. Ich kam zu der Auffassung, dass ich es gar nicht mehr schlimmer machen konnte. Also griff ich das Thema bei einer Veranstaltung an der HU Berlin zum Thema »Ein Jahr nach Edward Snowden« in meinem Vortrag auf. Meine Gegenargumente fanden so großen Anklang, dass ich sie aufbereitete und auf der Website von Digitalcourage veröffentlichte. Bald wurde ein Flyer daraus und kurze Zeit später sogar ein Büchlein in der Reihe »kurz und mündig«. Eins der meistgekauften Bände dieser Reihe.

Und auch in mein Buch »Digitale Mündigkeit« fanden die Gegenargumente Einzug. Sie haben sich in der Zeit immer weiter entwickelt, wurden je nach Platz, der mir zur Verfügung stand, ausführlicher oder knapper behandelt, wurden durch andere Menschen ergänzt, neu inspiriert und sind bis heute sehr treffend. Immer wieder kommt es vor, dass ich Artikel zu dem Thema lese und mir gleich mehrere meiner – manchmal etwas exotisch gewählten – Beispiele begegnen. Wie zum Beispiel die Pilzinfektion, wegen der man zum Arzt musste und die man vielleicht nicht unbedingt dem Arbeitgeber unter die Nase reiben möchte. Jedes Mal bemerke ich, dass man als einzelne Person eben doch einen Unterschied machen kann. Und das erfüllt mich mit großer Hoffnung. Wenn ich mir also etwas wünschen darf: Bitte macht weiter damit! Verbreitet das Gegengift! Es wirkt. Ich persönlich höre den Mythos »Ich habe doch nichts zu verbergen« immer seltener.

Gastbeitrag von Leena Simon

Leena Simon arbeitet für Digitalcourage und hält Vorträge und Workshops. Ihr Hauptthema ist »Digitale Mündigkeit« und so lautet auch der Titel ihres Buches. Außerdem beschäftigt sie sich mit digitaler Gewalt und Cybermobbing/Cyberstalking sowie digitaler Bildung.

2. Ich habe nichts zu verbergen!

Dieses häufig vorgebrachte Argument ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Im Folgenden werden zwölf Gründe genannt, warum es wichtig ist, diese Aussage zu hinterfragen.

2.1 Es ist falsch

Wir alle schließen die Klotür hinter uns und geben unser ungesperrtes Handy eher ungern an Fremde weiter. In der Grundschule türmen Kinder ihre Mäppchen und Schulbücher zu Mauern auf, damit das Sitznachbarkind nicht abschreiben kann und in der Pubertät distanzieren sich Jugendliche von ihren Eltern, indem sie (meist recht triviale) Geheimnisse vor ihnen haben. Geheimnisse formen unsere Identität. Es gibt Dinge, die wir nur den allerwichtigsten Menschen in unseren Leben offenbaren. Oder nicht mal das. Eine Schwangerschaft dürfen wir beim Bewerbungsgespräch verheimlichen und eine chronische Krankheit will ich einer zukünftigen Arbeitgeberin vielleicht auch nicht unbedingt mitteilen. Selbst wenn wir jetzt noch keine großen Geheimnisse haben: Irgendwann kommt der Moment, wo wir sie haben. Oder wo jemand, der uns wichtig ist, ein Geheimnis hat, das wir schützen wollen. Denn wir wollen doch vertrauenswürdig sein. Oder?

2.2 Es ist unreflektiert

Denn es missachtet den Zusammenhang zwischen Freiheit, Geheimnissen und Machtverhältnissen. Jemand, der alles über uns weiß, kann uns leicht erpressen oder unsere Identität annehmen (Identitätsdiebstahl). Jemand, der viel über eine große Menge an Menschen weiß, kann diese Information nutzen, um ganze Wahlen zu beeinflussen. Spätestens wenn man sich einen Stalker »eingefangen« hat – das geht heute schneller denn je und man muss dafür keine speziellen Merkmale mitbringen – merken Menschen, dass sie doch etwas zu verbergen gehabt hätten.

2.3 Es vergisst gesellschaftlichen Wandel

Was heute gesellschaftlich akzeptiert ist, könnte Sie schon morgen in Schwierigkeiten bringen. Diese Erfahrung machten unlängst Politiker.innen, die in den 80ern ihre Doktorarbeit schrieben und sich auf den damals üblichen unsauberen Umgang mit Zitaten verließen, der ihnen heute zum Verhängnis wird. Oder Pipi Langstrumpf, die vom N-Wort-König schwärmt, ohne zu wissen, dass das N-Wort später einmal eben nicht mehr so unverfänglich benutzt werden kann, wie man damals glaubte, es benutzen zu dürfen. Selbst Erich Kästner stellt seinen Kinderhelden Emil aus heutiger Sicht als »Umweltsau« hin, als der nämlich (im zweiten Band) sein Butterbrotpapier völlig bedenkenlos aus dem Zugfenster wirft. »Welch schlechtes Vorbild!«, würde man heute ausrufen. Zeiten ändern sich. Und auch das, was wir als richtig und falsch einstufen. Vielleicht machen Sie ja gerade in diesem Moment etwas, was in Zukunft mal als ungehörig eingestuft wird.

2.4 Es ist geschichtsvergessen

Denn es lässt die Folgen radikaler Regierungswechsel außer Acht. Die deutsche Geschichte zeigt, dass gesammelte Informationen über die Bevölkerung in den Händen von radikalen Regimen ein erschreckendes Missbrauchspotential entfalten.

2.5 Es ist unlogisch

Es impliziert: Wenn Sie etwas zu verbergen haben, haben Sie etwas Falsches getan, das Sie jetzt verheimlichen müssen. Das ist ein weit verbreiteter logischer Fehlschluss mit dem Namen »Inversionsfehler«. Wenn Sie diesen noch nicht kennen, lohnt es sich, ihn kennenzulernen und in Zukunft zu vermeiden: Auch wenn kriminelle Machenschaften im Verborgenen stattfinden, bedeutet das noch lange nicht, dass alles, was verborgen bleibt, auch kriminell ist. Leuchtet Ihnen noch nicht ein? Dann so: Bei Regen ist die Straße nass. Korrekte Aussage. Doch daraus können Sie nicht ableiten, dass eine nasse Straße ein Hinweis auf Regen ist. Vielleicht haben die Nachbarskinder eine Wasserschlacht gemacht, vielleicht hat jemand sein Auto gewaschen oder den Rasensprenger schlecht aufgestellt. Sie können eine Folgerung (logisches Konditional) nicht einfach umdrehen (logisches Bikonditional). Achten Sie mal darauf. Diesen Fehler machen wirklich viele Menschen andauernd und immer wieder.

2.6 Es stigmatisiert

Denn es vermittelt, dass Sie sich einer Norm unterwerfen müssen, um toleriert zu werden. Wer »komische« Sachen im Bett macht, Haschisch raucht, eine Liebesaffäre hat oder einfach nur den falschen Tweet liked, wird in einen Topf mit Kriminellen geworfen.

Buchtipp

Leena Simon will die Welt retten. Sie findet, das geht nur, indem wir alle gemeinsam unsere Haltung gegenüber digitaler Technik ändern und mehr Verantwortung übernehmen.

Digitale Mündigkeit

Digitale Mündigkeit – Wie wir mit einer neuen Haltung die Welt retten können

2.7 Es ist unsolidarisch

Je mehr Menschen glauben, dass sie nichts zu verbergen hätten, desto verdächtiger wird es, überhaupt Geheimnisse zu haben. Je häufiger dieser Satz fällt, desto schwerer haben es Menschen, die darauf angewiesen sind, Dinge geheim zu halten. Viele von Stalking Betroffene stehen vor dem Problem, dass sie dem Angriff auch deshalb nicht entkommen können, weil ihr Umfeld kein Verständnis dafür hat, dass sie Schutz brauchen. Wenn zum Beispiel E-Mails abgefangen und manipuliert werden, ist es verständlich, dass eine Betroffene nur noch verschlüsselte E-Mails verschicken möchte. Dafür muss aber auch die Gegenseite verschlüsseln. Dazu sind viele Behörden noch immer nicht bereit. Bei Bewerbungen über E-Mail ist das ganz besonders schwierig. Wer stellt schon jemanden ein, der schon im Bewerbungsprozess »Stress gemacht« hat?

2.8 Es ist naiv

Eine einzelne Information wie z. B. Ihr Geburtsdatum oder Ihr Hobby mag harmlos sein. Aber aus vielen solchen Daten konstruieren Unternehmen zu Werbezwecken heute schon Profile, um Ihr Verhalten vorauszusagen und zu manipulieren. Das Missbrauchspotential (zum Beispiel für Heiratsschwindler, Stalkerinnen oder sexuelle Gewalttäter) wird maßlos unterschätzt. Denn die Verknüpfung von Daten addiert sie nicht einfach auf. Sie führt dazu, dass Informationen multipliziert oder gar potenziert werden. Denn an jedem Datum hängen andere Informationen dran.

2.9 Es verhindert Widerstand

Wer sein ganzes Leben offenlegt und sich damit erpressbar und manipulierbar macht, wird es später schwer haben, sich gegen undemokratische oder unmenschliche Autoritäten zu wehren. Wollen wir hoffen, dass es niemals nötig wird. Doch darauf sollten wir uns definitiv nicht verlassen. Eine freie Gesellschaft ist davon abhängig, dass Menschen sich gegen Repression und Faschismus zur Wehr setzen (können).

2.10 Es ist ignorant

Gerade um den vielen unterschiedlichen Rollen im Alltag gerecht zu werden, müssen wir selbst entscheiden, wer was über uns erfährt. Früher oder später können wir das nicht mehr ignorieren. Oder wollen Sie, dass Ihr Chef weiß, dass Sie wegen einer Pilzinfektion zum Arzt mussten?

2.11 Es ist demokratiefeindlich

Ohne Geheimnisse ist keine freie Meinungsbildung möglich, die Grundvoraussetzung für freie Wahlen ist. Es gibt einen guten Grund, weshalb es Wahlkabinen gibt. Wer sein Wahlverhalten nicht verbergen kann, ist erpressbar und manipulierbar. Wahlen müssen geheim sein, damit sie frei sein können. Wer »nichts zu verbergen« hat, disqualifiziert sich für den demokratischen Prozess.

Der Kuketz-Blog ist spendenfinanziert!

Unabhängig. Kritisch. Informativ. Praxisnah. Verständlich.

Die Arbeit von kuketz-blog.de wird vollständig durch Spenden unserer Leserschaft finanziert. Sei Teil unserer Community und unterstütze unsere Arbeit mit einer Spende.

Mitmachen ➡

2.12 Es ist privilegiert

Die Haltung »Ich habe nichts zu verbergen« muss man sich leisten können. Menschen, die befürchten müssen, wegen ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer Religion oder ihrer sexuellen Präferenzen angegriffen zu werden, können diesen Satz vielleicht nicht so frei heraus aussprechen. Oft merken wir gar nicht, wie viele Mechanismen unsere Geheimnisse schützen, weil wir so sehr daran gewöhnt sind und uns gar nicht bewusst ist, wie es ohne sie wäre. Wer eine eigene Wohnung oder zumindest ein eigenes Zimmer hat, kann leicht übersehen, dass sich darin eine Vielzahl von Geheimnissen befindet. Wer sich mit vielen anderen Menschen ein Zimmer teilen muss, sehnt sich danach, einmal so privilegiert zu sein, dass man gar nicht mehr weiß, dass man auch mal etwas verbergen möchte. Der Norm zu entsprechen, ist ein Privileg. Wer von der Norm abweicht, gerät durch diesen Satz schnell in Rechtfertigungsdruck.

3. Fazit

So liest sich das entsprechende Kapitel in meinem Buch »Digitale Mündigkeit«. Mir ist ja besonders der gesellschaftliche Aspekt sehr wichtig. Vielen Menschen, die diese Rechtfertigung verwenden, ist gar nicht bewusst, wie viel Schaden sie damit bei anderen anrichten. Wenn es nur sie selbst beträfe, könnte ich ja auch schulterzuckend sagen »ihr Problem«. Aber der Satz und seine Verbreitung schaden viel mehr der Gesellschaft und anderen Menschen, als jenen, die ihn aussprechen. Deshalb sind mir die sozial orientierten Antworten darauf am liebsten: Weil man Menschen damit stigmatisiert, sie unsolidarisch behandelt, ihre Diskriminierungserfahrungen negiert, und weil es Demokratie und Widerstand untergräbt. Ich glaube nicht, dass Menschen, die so reden, das bedacht haben oder bewusst in Kauf nehmen. Deshalb ist es um so entscheidender, dass wir nicht müde werden, diese Argumente zu wiederholen, bis alle sie kennen. Insofern gilt mein Dank allen, die daran mitwirken.

Über den Autor | Gastbeitrag

Gastbeiträge werden von Autoren verfasst, die nicht zum festen Redaktionsteam des Kuketz-Blogs gehören. Bevor ein Gastbeitrag veröffentlicht wird, findet eine inhaltliche Abstimmung mit mir statt. Dabei übernehme ich die redaktionelle Bearbeitung des Textes, prüfe den Inhalt und bereite den Beitrag sorgfältig für die Veröffentlichung im Blog vor.

Gastbeitrag ➡

SpendeUnterstützen

Die Arbeit von kuketz-blog.de wird zu 100% durch Spenden unserer Leserinnen und Leser finanziert. Werde Teil dieser Community und unterstütze auch du unsere Arbeit mit deiner Spende.

Folge dem Blog

Wenn du über aktuelle Beiträge informiert werden möchtest, hast du verschiedene Möglichkeiten, dem Blog zu folgen:

Bleib aktuell ➡


Diskussion

Ich freue mich auf Deine Beteiligung zum Artikel

HilfeWenn du Ergänzungen oder konkrete Fragen zum Beitrag hast, besuche das offizielle Forum. Dort kann der Beitrag diskutiert werden. Oder besuche den Chat, um dein Anliegen zu besprechen. zur Diskussion ➡

Abschließender Hinweis

Blog-Beiträge erheben nicht den Anspruch auf ständige Aktualität und Richtigkeit wie Lexikoneinträge (z.B. Wikipedia), sondern beziehen sich wie Zeitungsartikel auf den Informationsstand zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses.

Kritik, Anregungen oder Korrekturvorschläge zu den Beiträgen nehme ich gerne per E-Mail entgegen.